Dialekt lohnt sich! Ein Gastbeitrag von Hans Kratzer
Wozu brauchen wir heute noch Dialekte? Hans Kratzer, bis vor kurzem Redakteur bei der Süddeutschen Zeitung und Preisträger des Dieter-Wieland-Preises des Landesvereins, ist dieser Frage für unseren neuen Newsletter nachgegangen. Melden Sie sich an, um keinen zu verpassen: Zur Anmeldung
Als vor wenigen Wochen der Winter ins Land zog, griff auch CSU-Generalsekretär Martin Huber zur Schneeschaufel. „Jetzt ist erst mal Schneeschippen angesagt“, tat er in den sozialen Medien kund, wofür er sich aber sofort Kritik einhandelte. Sprachsensible Beobachter hielten Huber entgegen, in Bayern werde der Schnee geräumt oder geschaufelt. Geschippt werde er eher in Hamburg und in Berlin.
„Die Sprache ist ein beinharter Verdrängungswettbewerb“, sagt der Wiener Journalist Robert Sedlaczek, der folgendes beobachtet hat: „Oft hat ein Wort lange Zeit gute Dienste geleistet, da taucht plötzlich ein konkurrierender Ausdruck für dieselbe Sache auf, meist aus dem Angloamerikanischen oder aus dem Norddeutschen, und versucht, ihm den angestammten Platz streitig zu machen.“
Auch der Kabarettist Gerhard Polt beobachtet diese Entwicklung, die eine zunehmende Spracharmut in allen Lebensbereichen erzeugt. „Die Menschen werden auf toll oder super reduziert. Oder auf okay.“ Das ist schade, denn gerade die Vielfalt prägt das hiesige Sprechen. Anastacia, gefeierte US-Sängerin, sagte einmal, sie liebe es, die unterschiedlichen deutschen Dialekte zu hören. „Man steigt nach einer Stunde Fahrt aus dem Auto, und die Menschen sprechen völlig anders als an dem Ort, an dem man losgefahren ist.“
Alleine in Nordbayern gibt es Dutzende verschiedene Mundarten. Noch ausgeprägter sind die Variationen in Südbayern, wo oft von Ort zu Ort Unterschiede zu erkennen sind. Getrennt durch den Ebersberger Forst, spricht man in Ebersberg zum Beispiel eine andere Mundart als in Hohenlinden oder im Wasserburger Raum.
Obwohl das Bairische mit mehr als 13 Millionen Sprechern das größte zusammenhängende Dialektgebiet in Mitteleuropa bildet, reiht es die Unesco in die Riege der bedrohten Sprachen ein. Immer mehr Wörter verschwinden, weil sie nicht mehr verstanden und gebraucht werden. Der Kürbenzäuner zum Beispiel, der Korbflechter, dem Johann Andreas Schmeller in seinem berühmten Wörterbuch im 19. Jahrhundert ein Denkmal gesetzt hat, denn es war der ehrbare Beruf seines Vaters. Zuwanderung, Digitalisierung, Medien und Angliszimen verändern die Sprachgewohnheiten massiv. Darunter leidet nicht nur das Bairische. Wissenschaftler sagen, von den gut 6000 Sprachen, die weltweit noch zu hören sind, sei die Hälfte vom Aussterben bedroht.
Die Dialekte schleifen sich zwar ab, aber im Kabarett und in der Kleinkunst sind sie lebendig wie eh und je. Außerdem ist „es wieder schick geworden, neben der Alltagssprache noch ein mundartliches Register zu beherrschen“, sagt der Sprachwissenschaftler Klaus Grubmüller.
Trotzdem besteht der Irrglaube munter fort, der Dialekt sei eine mindere Schwundstufe des Schriftdeutschen. Im Kern ist das Bairische jedoch eine eigenständige Sprachvarietät mit hochkomplexen Regeln. Ähnliches gilt für die Schweiz, weshalb der Chemie-Nobelpreisträger Kurt Wüthrich seine wissenschaftlichen Vorträge unbeirrt auf Schwyzerdütsch darbietet.
Sprache war und ist ein wichtiges Stück Heimat. Sogar der aus Hamburg stammende Schriftsteller Uwe Timm, der in München lebt, sagt: „Wenn ich am Hauptbahnhof aus dem Zug steige und Münchnerisch höre, weiß ich: Ich bin zuhause.“ Und die Literaturwissenschaftlerin Elisabeth Tworek findet: „Wenn die bairische Sprache stirbt, stirbt keineswegs nur die dialektale Färbung des Deutschen, sondern es stirbt das charakteristische bairische Denken, das in der bairischen Grammatik und in der bilderreichen, farbigen Wortwahl ihren Ausdruck findet.“
Gleichwohl zerschellen solche Argumente allzu oft an jenem Sprach-Imperialismus, der über die Medien einsickert und suggeriert, das Bairische sei im Vergleich zu den Ausdrucksweisen des Nordens primitiv und rückständig. In den 70er-Jahren hatten Soziologen und Pädagogen getönt, Dialekt sei ein Lernhindernis und damit ein bildungspolitisches Desaster provoziert.
Der Landbevölkerung wurde eingetrichtert, dass sie falsch rede, und sie bemühte sich aus Angst vor dem sozialen Abstieg redlich um Besserung. „Geij Bou, dassd fei schee schmatzt!“ Jene mütterliche Mahnung, die der Autor Josef Fendl literarisch verewigt hat, wurde quasi zum Vademecum für Hunderttausende Schulkinder. Viele Eltern, Erzieherinnen und Lehrer verbreiten den Unsinn heute noch und ignorieren die wissenschaftliche Erkenntnis, dass Kinder umso schlauer werden, je mehr Sprachvarianten sie beherrschen. Dialektsprechende Schüler produzieren laut einer Untersuchung des Marburger Instituts für deutsche Sprache viel weniger Rechtschreibfehler als einsprachig erzogene Kinder.
Umso unverständlicher ist es, dass Menschen nach wie vor wegen ihrer von der Norm abweichenden Sprechweise benachteiligt werden. Der Augsburger Sprachwissenschaftler Werner König hat dieses Phänomen intensiv erforscht, sein Ergebnis ist ernüchternd. Das Vorurteil, der Norden sei dem Süden sprachlich überlegen, bewirke, dass dortige Mundartsprecher diskriminiert werden. Bei Bewerbungsgesprächen reiche oft schon eine Klangfärbung aus, um aussortiert zu werden.
Überdies wird häufig das Hoch- mit dem Norddeutschen gleichgesetzt, weshalb viele davon ausgehen, sie sprächen ein gutes Schriftdeutsch, wenn sie Wörter wie lecker, tschüss und ausbüxen benutzen. In Wahrheit verwenden sie norddeutsche Regionalausdrücke, was ja legitim ist, nur sollte man sich dessen auch bewusst sein.
Die Dialekte schwinden, aber immerhin werden sie wissenschaftlich bis ins Detail erforscht und dokumentiert. Jahrhundertprojekte wie das Bayerische Wörterbuch setzen dieser Sprache ein unvergleichliches Denkmal. Die mit der Herausgabe beauftragte Kommission für Mundartforschung bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften wurde bereits 1911 gegründet, das Werk wird frühestens 2060 fertig sein. Es erfasst den Wortschatz der bairischen Dialekte vom frühen Mittelalter bis zur Schwundstufe der Gegenwart.
Überdies kann man in der von der Bayerischen Akademie der Wissenschaften betreuten Online-Datenbank BDO zu Dialektwörtern aus ganz Bayern fundiert recherchieren. Das Angebot umfasst das digitale Sprachinformationssystem des Bayerischen Wörterbuchs, des Fränkischen Wörterbuchs sowie des Dialektologischen Informationssystems von Bayerisch-Schwaben. Mechthild Habermann, Projektleiterin des Fränkischen Wörterbuches, betont, dass erst durch diese Gesamtschau deutlich werde, wie eng Bairisch, Schwäbisch und Fränkisch miteinander verwoben seien.
Für ein gleichberechtigtes Nebeneinander von Dialekt und Standarddeutsch werben seit Jahrzehnten Vereine wie der Förderverein Bairische Sprache und Dialekte sowie der Bund Bairische Sprache. Sie vertreten das Credo, Sprachvielfalt sei ein Schlüssel zu einer toleranteren Gesellschaft. Überzeugend klingt vor allem das Plädoyer für die Stärkung der südhochdeutschen Standardsprache. Denn diese kann im Gegensatz zum mundartlichen Bairisch im Schulunterricht und in Sprachkursen vermittelt werden. Es wäre ein wichtiger Baustein, um zu verhindern, was Werner Müller, der frühere Sprachpfleger des Bayerischen Rundfunks, befürchtet: „Es stirbt gerade eine Generation aus, der die Sprache wichtig ist.“