Der Kunsthistoriker Dr. Dieter Klein dokumentiert mit seinen „Abreißkalendern“ für Wien und München seit über 40 Jahren massive Eingriffe ins Stadtbild. Auch mit Führungen und Vorträgen sensibilisiert der Jugendstil-Experte für den Denkmalschutz. Im Januar prämiert der Bayerische Landesverein für Heimatpflege wieder den „Abriss des Jahres“ – eine Aktion, die Dieter Klein überaus wichtig findet, wie er im Gespräch mit dem Landesverein betont.
Wenn Dieter Klein durch München oder Wien spaziert, sieht er immer etwas mehr und etwas weniger als andere: das, was einmal war und nicht mehr ist – und das, was noch da ist, aber weg hätte sollen. Es ist der Blick eines Kunsthistorikers, dem das gebaute Erbe am Herzen liegt, vor allem, wenn es aus der Zeit des Historismus und des Jugendstils stammt.
Dieter Klein war einer der Ersten, der seit 1984 das Thema mit einem „Abreißkalender“ in die Wohnzimmer der Menschen transportiert. Mittlerweile gibt es verschiedene Spielarten dieser Idee. Für den „Abriss des Jahres“, den der Bayerische Landesverein für Heimatpflege im Januar zum vierten Mal publikumswirksam kürt, hat er spontan einen Kandidaten: die Villa Schuster-Woldan am Herrgottschrofen in Garmisch-Partenkirchen. Aber leider zu spät. „Sie wurde 2023 abgerissen“, sagt Dieter Klein.
Der Unterton in seiner Stimme verrät, dass ihn Verluste dieser Art persönlich treffen. Der Architekt Martin Dülfer (1859-1942) hatte das ehemalige Bauernhaus im Auftrag der Familie Schuster-Woldan zur Künstlervilla umgebaut. In den letzten Jahren hat man sie verfallen lassen und jetzt ist sie für immer dahin, wie so viele traurige Kandidaten verlorener Baukultur in Bayern.
Klein hat über Dülfer promoviert, in seiner Monographie porträtiert er das Leben und das Werk des gebürtigen Breslauers. Sein Doktorvater Heinrich Habel (1932-2022), Historismus-Experte und Hauptkonservator am Landesamt für Denkmalpflege, hat ihn während seines Studiums auf den Jugendstil-Architekten aufmerksam gemacht.
Dieter Klein, geboren 1942 in Kukan bei Gablonz an der Neiße im Sudetenland, ist in Wien zur Schule gegangen. Er hat als Reiseleiter in der Donauschifffahrt gearbeitet und dann in München Kunstgeschichte studiert. Es folgten Lehraufträge an den Universitäten München und Salzburg sowie zahlreiche Publikationen. In den 90er Jahren leitete er die „Dokumentationsstelle zur Erfassung der Kulturdenkmäler in den historischen deutschen Siedlungsgebieten“. Ursprünglich wollte er Architekt werden, absolvierte sogar ein Baustellenpraktikum, bevor er sich in die Baukunst des 19. Jahrhunderts verliebte. „Das ist meine Zeit“, sagt er. Was ihm gefällt, galt in der Nachkriegszeit als verlogener Kitsch und unnötiger Staubfänger. „Es ist ja leider immer so, dass die nächste Generation schlecht findet, was die vorherige gebaut hat.“ Was die Bomben im Krieg nicht erwischt haben, erledigten die Menschen im Wirtschaftswunderland: Sie schlugen den Stuck ab, verputzten die Schnörkel und trimmten die verspielten Fassaden auf klare Kanten und rechte Winkel. In dieser Zeit, sagt Dieter Klein, als die Denkmalpflege sich erst formierte und das „alte Glump“ dem kühnen Fortschrittsgedanken – und nicht selten dem Auto – im Weg stand, ging am meisten verloren, sowohl in den Städten, also auch auf dem Land. Jetzt gehe es darum, den letzten Rest an historischen Häusern, gewachsenen Dorfkernen, stimmigen Sichtachsen und maßstäblichen Proportionen noch zu bewahren.
Das Neue gefällt ihm oft nicht. In München lässt er eine Ausnahme gelten: Das BMW-Hochhaus findet Gnade vor dem kritischen Blick des Kunsthistorikers. Auch Sanierungen gelingen aus seiner Sicht nicht immer. Gefährlich werde es dann, wenn Bauherren und Architekten sich auf Kosten der alten Bausubstanz selbst verwirklichen wollen. „Es ist ziemlich leicht, etwas zu verschlimmbessern“, konstatiert er mit bitter-trockenem Humor im wienerisch gefärbten Dialekt. Gute Beispiele gäbe es aber auch: Wie Riemerschmids Jugendstil-Einrichtung der Münchner Kammerspiele hergerichtet wurde, bekommt Dieter KIeins vollen Beifall und die Sanierung des Bernheimer-Palais‘ am Münchner Lenbachplatz seinen Segen – trotz Skandalpleite des umstrittenen Bauunternehmers Jürgen Schneider. Klein lässt seinen Blick durch die Brasserie im Literaturhaus schweifen und nimmt einen Schluck von seinem großen Braunen, den er sich als halber Wiener auch in München ganz selbstverständlich bestellt. „Das war einmal ein Schulhaus“, erzählt er und fügt an, dass die Architekten den Aufbau für den großen Saal im obersten Stockwerk recht gut gemeistert hätten, „weil man ihn von unten so gut wie gar nicht sieht“.
Unsichtbar war lange Zeit auch eine heute sehr augenfällige Fassade an der Münchner Freiheit. Dieter Klein zeigt ein Foto der Leopoldstraße 77, schräg gegenüber dem Busbahnhof. Der Giebel schwingt sich in sanften Wellen in die Höhe, florale Ornamente schmücken wohl geordnet den Erker und die Fassade. Das Haus ist ein Hingucker. Dieter Klein ist es zu verdanken, dass es ihn wieder gibt: Noch in den 1970er Jahren fristeten die glatt verputzten Außenwände ein unscheinbares Dasein, bis Klein eine Postkarte mit Martin Dülfers original Jugendstil-Ausstattung in die Hände fiel, die später rekonstruiert wurde. Klein berichtet von weiteren Rettungsaktionen Dülferscher Baukunst, zum Beispiel einer freigelegten Stuckdecke im Saal des Lübecker Theaters – Theaterbauten waren Dülfers Spezialität – und dem nach Intervention wieder aufgestellten Kassenpavillon im Meraner Theater.
Die Beschäftigung mit Dülfer war der Ausgangspunkt für Dieter Kleins Engagement als Denkmalschützer. Die Initialzündung aber reicht zurück in seine Kindheit. Er erzählt von einem Tobsuchtsanfall, den er als Fünfjähriger bekommen hat als die Eltern vermeintlich unmodische Troddeln am Sofa abschnitten. „Ich habe die Quasten in Sicherheit gebracht.“ Und jetzt gelingt es ihm manchmal, ein Haus, eine Fassade oder eine Blickachse in Sicherheit zu bringen. In seinen Abreißkalendern und geführten Spaziergängen durch die Stadtviertel von München und Wien dokumentiert er die Veränderungen und Verluste im Stadtbild. Er konfrontiert das Nachher mit dem Vorher. Unnötig zu sagen, was dabei besser wegkommt. Dieter Klein lässt die Monate des kommenden Jahres im Abreißkalender von Wien durch seine Finger gleiten. Von München gibt es diesmal keine neue Auflage. Was nicht heißt, dass der Kampf gegen Abrissbirnen hier vorbei wäre.
Text und Bild: Angelika Sauerer.







