Die Friedenskirche und die Entstehung der evangelischen Gemeinde in Neufahrn in Niederbayern
Eine Erinnerung aus meiner Kindheit: Sonntäglicher Gottesdienst in einem bescheidenen hölzernen, stets lichtdurchfluteten Kirchenraum. Alle sitzen nah beieinander. Es gibt keine Kirchenschiffe, keine Distanz zum leicht erhöhten Podest des Altars, das man im Vorbeugen berühren könnte. Nahbar. Freundlich. In menschlichem Maß. Zugewandt.
In diesem Raum: die Menschen. Mit einem Zungenschlag, der sich auch in den 1980er Jahren, den Jahren meiner Kindheit, deutlich von dem unterscheidet, den ich in der Schule oder im Dorf höre. Nach dem Gottesdienst treten einige von ihnen an den tönernen, tonnenförmigen Taufstein heran, um den ein eiserner Ring gelegt ist. An diesem Ring hängen viele, sehr viele Schlüssel. Klein, groß, … Einer hat sogar ein Scharnier, daran erinnere ich mich genau. Ich habe ihn als Kind wieder und wieder untersucht und mir vorzustellen versucht, wie wohl das Haus aussah, dessen Tor er einmal öffnete.
Die Menschen suchen zwischen diesen vielen Schlüsseln nach einem ganz bestimmten. Finden ihn. Halten ihn kurz in der Hand, bevor sie die Kirche verlassen, um nach Hause zu gehen. Nach Hause im niederbayerischen Neufahrn. Nicht nach Schlesien, woher diese
Schlüssel stammen. Sie hatten sie mitgenommen. Damals, 1945, nachdem sie ihre Häuser sorgfältig abgesperrt hatten. Ohne zu wissen, dass diese Heimat unwiederbringlich verloren sein würde.
Ich selbst wuchs in dieser Gemeinde in den späten 1970er und frühen 1980er Jahren auf. Mein Vater war evangelischer Pfarrer und von der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern nach einem langjährigen Einsatz in Brasilien dorthin entsandt worden. Auch diese Igreja Evangélica de Confissão Luterana no Brasil war aus der – nicht immer freiwilligen – Migration von Deutschen nach Südamerika im 19. und 20. Jahrhundert hervorgegangen. In der Auswanderung sahen viele Deutsche die Chance, den sozialen und wirtschaftlichen Problemen in ihrer Heimat zu entkommen. Dennoch unterschied sich diese Migrationsbewegung grundlegend von derjenigen, die zur Gründung der Gemeinde der Friedenskirche in Neufahrn bei Landshut geführt hatte.
Am 28. Februar 1950 wurde sie geweiht. 2025 feiert sie ihren 75. Geburtstag. Sie ist bis heute ein sehr gut erhaltenes Beispiel für die Kirchen, die nach dem Zweiten Weltkrieg im Rahmen des Notkirchenprogramms der Evangelischen Kirche Deutschlands nach typisierten Plänen des Architekten Otto Bartning errichtet wurden.
Otto Bartnings Notkirchen
Otto Bartning (1883-1959) gilt als einer der bedeutendsten und einflussreichsten deutschen Architekten des 20. Jahrhunderts. Er entstammte einer Pfarrersfamilie und war mit dem Ritus und allen anderen Aspekten evangelischer Glaubens- und Lebenswelt eng vertraut. Schon aus diesem Grund war für ihn das Thema des (protestantischen) Sakralbaus lebensbegleitend. Bereits während seines Studiums erhielt er einen ersten Planungsauftrag für eine evangelische Diasporakirche. Neben Rudolf Schwarz und Dominikus Böhm auf katholischer Seite gehört er zu den bedeutendsten Vertretern des Sakralbaus in der Zeit der Weimarer Republik und nach 1945.
1912 wurde Bartning als Mitglied des Deutschen Werkbundes berufen, dessen Vorstand er 1919 bis 1923 angehörte. Gemeinsam mit Walter Gropius entwickelte er das Konzept für das Bauhaus in Weimar. Nach dem Umzug dieser neuartigen Kunstschule nach Dessau war Bartning von 1926 bis 1930 Direktor der neu gegründeten Staatlichen Bauhochschule Weimar, deren innovatives, sozial ausgerichtetes Lehrmodell bereits 1930 dem Thüringer Nationalsozialismus zum Opfer fiel. Bartning trat nach dem Machtwechsel sofort von seinem Posten zurück.
Nach dem Zweiten Weltkrieg waren viele Städte zerstört. Im Sommer 1945 war mehr als ein Drittel aller Kirchen nicht mehr nutzbar. Hinzu kam der Strom der Flüchtlinge, die nicht nur Wohnraum und Arbeit, sondern auch Orte der Gemeinschaft und Andacht brauchten. Die ersten provisorischen Gebetsräume waren Holzbaracken, bis Bartning als Leiter der Bauabteilung des Hilfswerks der Evangelischen Kirche in Deutschland das Notkirchenprogramm entwickelte und organisierte. Ziel war der Entwurf eines Sakralbaus, der serienmäßig herstellbar war und zu dessen Errichtung die Gemeinde vor Ort mit einem möglichst großen Anteil an Eigenleistung beitragen konnte.
1946 wurde der Entwurf den Spendern des Hilfswerks vorgestellt, denn erst durch die große Spendenbereitschaft der Lutherischen Weltkirche konnte das Notkirchenprogramm überhaupt verwirklicht werden. Bartning selbst schrieb hierzu: „Im November 1947 aber, als ich gerade in Berlin war, ereilte mich telefonische Nachricht: Der ‚Weltrat der Kirchen in Genf‘, ‚Lutheran World Federation‘, ‚Evangelical and Reformed Church‘, ‚Presbyterian Church‘ und ‚Schweizer Hilfswerk‘ haben 40 Notkirchen, 40 mal 10 000 $ gestiftet. Große Erfüllung! […] Diejenigen, die mir die Nachricht meldeten, erwarteten wohl, ich würde laut aufjubeln. Und ich dachte eigentlich selbst, ich müsste es tun. Aber ich verstummte, ging auf die Straße und wanderte stundenlang durch die Trümmerfelder, wie ein Besessener, wie ein Verurteilter. […] Wird es 40, ach nein: wird es 10, oder auch nur 5 solcher Not-Gemeinden geben? Wenn nicht, so will und muss ich den wunderbaren Auftrag in die Hände der großmütigen Stifter zurücklegen. […] Und so fing ich an, von Bauort zu Bauort zu fahren, die Bauplätze, das Material und die Mittel zu prüfen – und die Bereitschaft der Gemeinden. Auch den Zustand der Ruinen, denn oft lassen die Elemente der Notkirche sich merkwürdig einfügen. […] Darum bauen wir Notkirchen.“
48 solcher Notkirchen für alle vier Besatzungszonen in Deutschland wurden durch Spenden finanziert, davon alleine 30 vom Lutherischen Weltbund. Ein Löwenanteil dieser Spenden kam aus den USA. 43 Kirchenbauten wurden letztlich realisiert.
Bartnings Grundgedanke war es, ein vorgefertigtes Tragewerk aus hölzernen Dreigelenkbindern mit einer Dachkonstruktion als Grundgerüst des Baukörpers in Serie vorzuproduzieren. Dieses Holzskelett wurde den Gemeinden geliefert und vor Ort aufgestellt. Die Gemeinde erstellte ihrerseits – meist im Ehrenamt – Fundament und Mauerwerk. Das Material für die Mauerausfachungen und die Umfassungsmauern war variabel, je nach den Bedingungen vor Ort. Es konnten Ziegel, Trümmersteine, Verbundstoffe oder ortstypisches Gestein sein. Das enorme Engagement der meist neu gegründeten Flüchtlingsgemeinden an der Ausführung der Kirchenbauten, das „Bauen an unserer Kirche“, begründete eine starke emotionale und gesellschaftliche Bindung an „ihre“ Kirche, die oft bis in unsere Tage anhält.
Zunächst gab es zwei Modelle: Typ B mit drei möglichen Chorvarianten und den gemeinsam mit dem Schweizer Ingenieur Emil Staudacher entwickelten TYP A, der aufwendiger konstruiert war und nur zwei Mal verwirklicht wurde. Trotz ihres seriell vorgefertigten Holzskelettsystems sind die Notkirchen aufgrund ihrer Modulbauweise in ihrer finalen Erscheinung völlig unterschiedlich. Für Bartning war es wichtig, einen würdigen Sakralraum zu schaffen, der aber gleichzeitig multifunktional als Gemeinderaum genutzt werden konnte. Daher ließen sich einzelne Bereiche wie der Altarraum durch Falttüren abtrennen.
Ab 1949 wurde ein zweites Notkirchenbauprogramm entwickelt und umgesetzt, zu dem auch der Typ D gehörte, der als Gemeindezentrum bezeichnet wurde und mit 250 Sitzplätzen für kleinere Gemeinden konzipiert war. Bei diesem Gebäudetyp wurde ein zentraler, kreuzbekrönter Glockenträger auf das Dach aufgesetzt. Die Ausfachungen zwischen den Holzständern wurden aber nicht wie bei den Typen A und B mit Steinen oder Ziegeln, sondern mit Zementfaserplatten ausgefüllt.
Insgesamt wurden mit Hilfe des Kirchenbauprogramms der EKD an die 100 Notkirchen errichtet. Dies insbesondere dort, wo sich Flüchtlinge evangelischen Glaubens ansiedelten, häufig in neu entwickelten Wohngebieten. Im Magazin „Monumente“ der Deutschen Stiftung Denkmalschutz betitelt die Autorin Julia Ricker ihren Aufsatz zu den Bartning-Kirchen mit „Spiritualität in Serie“ – und in der Tat verbindet sich in dessen Kirchenbauten ökonomische Bauweise mit einem Raumerlebnis, das mehr ist als eine gebaute Hülle für den Gottesdienst. Bartnings Anspruch war es, einen Raum für das religiöse Handeln einer Versammlung von Gläubigen zu schaffen. In der 1919 erschienenen Schrift „Vom neuen Kirchenbau“ stellte er den Begriff der „Raumspannung“ in den Mittelpunkt, den er zur „liturgischen Spannung“ eines Gottesdienstes in Beziehung setzte, „die sich in der Anordnung der Gemeinde zu Altar und Kanzel ausdrückt.“
Der Kirchenraum dieses Typs D, zu dem auch die Neufahrner Friedenskirche gehört, besteht aus dem zentralen Gemeindesaal, sich beidseitig anschließenden, 250 cm tiefen Seitenschiffen und dem gegenüber dem Altar angeordneten Sängerpodium. Der zentrale Raum hat mehr Raumhöhe, belichtet durch ein umlaufendes Fensterband. Ein Anbau hinter der Altarwand beherbergt Sakristei bzw. Amtszimmer und Teeküche. Freistehende Holzbänke können variabel eingesetzt werden – für einen Gottesdienst ebenso wie für eine Zusammenkunft der Gemeinde. Ein um zwei Stufen erhöhtes Podest verbindet den in eine Nische eingestellten Altar mit dem Kirchenraum. Diese Nische kann bei einer Nutzung als Gemeindesaal mit Flügeltüren geschlossen werden. Zwei Eingänge für die Kirchenbesucher flankieren das Sängerpodest, auf dem sich in der Neufahrner Kirche auch eine Orgel befindet.
Sabrina Kronthaler und Jörg Rehm schreiben in ihrer grundlegenden Studie zum Notkirchenprogramm: „So hat Bartning nicht nur ein architektonisches Oeuvre von etwa 250 Bauten hinterlassen, darunter neben seinen Kirchen auch viele sehr qualitätvolle Profanbauten, sondern er war zudem ein wichtiger Organisator, Programmatiker und Theoretiker des Bauens. In jeder seiner Lebensperioden hat sich Bartning aktiv mit den maßgeblichen gesellschaftlichen Diskussionen auseinandergesetzt. Seit 1918 gehörte er zu den Protagonisten der Moderne. Als Mitglied im revolutionären Arbeitsrat für Kunst entwarf er Konzepte einer radikalen Studienreform für Künstler und Architekten, auf die sich Walter Gropius bei der Gründung des Staatlichen Bauhauses in Weimar stützen konnte. In der Weimarer Republik machten seine […] Kirchenbauten Furore. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs beeinflusste Bartning wie kein anderer Architekt in den Jahren der Not die Baukultur der Nachkriegsmoderne. Mit seinem Aufruf zu einem schlichten, bescheidenen Wiederaufbau und einer Wiederbelebung der Städte im Sinne christlicher Solidargemeinschaft wurde der prominente, politisch unbelastete Architekt zur Instanz einer ethisch reflektierten Stadtplanung.“
Seit 2012 gibt es auf Initiative der Otto-Bartning-Arbeitsgemeinschaft Kirchenbau e. V. Bemühungen für eine Anerkennung dieses Kirchentyps als UNESCO-Weltkulturerbe. Bartnings Notkirchen sind bis heute in ihrer bestechenden Bescheidenheit und Schönheit eindrucksvolle Zeugnisse sakraler Räume und religiöser Gemeinschaft nach dem Zusammenbruch 1945. Sie künden vom Glauben als elementarem Bestandteil des Lebens, von Gemeinschaft und Aufbruch.
Flucht und Vertreibung
Bis 1952 kamen rund 1,9 Millionen aus dem Osten Geflüchtete nach Bayern, das 1939 (ohne die Pfalz) 7,1 Millionen Einwohner zählte. Das bedeutete einen Zuwachs von über 26 Prozent – ein Viertel mehr Bürger im neuen Freistaat Bayern. 55 Prozent von ihnen waren Sudetendeutsche, 24 Prozent Schlesier, vier Prozent Ostpreußen. Die Flüchtlingsströme wurden aufgrund der Zerstörung der großen Städte in ländliche Gebiete gelenkt. Der enorme Bevölkerungsanstieg veränderte Bayern wie kaum ein historisches Ereignis vorher. Zum einen wurde durch die mehrheitlich protestantischen Flüchtlinge die konfessionelle Zusammensetzung auf dem Land, die jahrhundertelang weitgehend homogen war, aufgebrochen. Zum anderen bereicherte die berufliche Expertise der Flüchtlinge die Wirtschaft. Und nicht zuletzt erhielt die Besiedelung Bayerns durch die Gründung von Flüchtlingsstädten neue Impulse.
Die Geflohenen und Vertriebenen aus dem Osten hatten alles verloren. Sie standen vor der Herausforderung, sich in einer neuen Umgebung integrieren zu müssen, die von Vorurteilen und einem massiven Mangel an Ressourcen geprägt war. In den ersten Jahren nach Kriegsende arbeiteten sie gegen Wohnung und Nahrung bei den örtlichen Bauern. Die wenigen Dinge, die über die Flucht gerettet werden konnten, wurden eingetauscht gegen das Notwendigste – meist Nahrungsmittel. Was niemand eintauschen wollte, blieb in den Familien und wurde sorgfältig als Erinnerung an die verlorene Heimat bewahrt.
Neubeginn in Neufahrn
Niederbayern war abseits der größeren Städte immer katholisches Kernland. In Landshut, Straubing und Passau entstanden die ersten evangelischen Kirchen mit kleinen Gemeinden von einigen hundert Seelen erst im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts. In der Fläche gab es nur vereinzelt Gemeinschaften, die sich zum Gottesdienst zusammenfanden. So trafen sich ab 1895 in einem schlichten Betsaal im Schloss Neufahrn immer wieder evangelische Christen aus den Orten Neufahrn, Ergoldsbach, Pfaffenberg, Laberweinting, Geiselhöring, Eggmühl, Langquaid, Walpersdorf und Inkofen zum Gottesdienst, der von einem Vikar aus Landshut gehalten wurde. Es waren nur wenige Dutzend Menschen, die sich versammelten.
Nach 1945 nahm die Zahl der evangelischen Christen in Bayern deutlich zu, nahezu 700.000 wurden allein in Niederbayern und in der Oberpfalz angesiedelt. Neufahrn, das vor 1945 1598 Einwohner zählte, nahm am Kriegsende 975 Heimatvertriebene auf. Ein Teil der Flüchtlinge, die dort ankamen, war im Treck in dem schlesischen Dorf Schönfeld, Kreis Brieg, aufgebrochen auf der Flucht vor der russischen Armee.
Ernst Stiller war der erste Pfarrer der Flüchtlingsgemeinde Neufahrn. Er floh am 18. Februar 1945 aus Reichenbach im Eulengebirge und erreichte am 6. März Straubing. Von dort wurde er von der evangelischen Landeskirche nach Neufahrn entsandt, das seit 1929 der evangelischen Gemeinde in Straubing zugeordnet war. Ab 1945 wuchs die Zahl der Einwohner evangelischer Konfession von 30 auf 385. Hinzu kamen die in den umliegenden Dörfern untergekommenen Flüchtlinge. Neufahrn war nun deren neue Heimat. Die Hoffnung, rasch zurückkehren zu können, zerschlug sich bald. Die Menschen mussten dort bleiben, wohin sie dirigiert worden waren, und versuchen, sich in der Diaspora ein neues Leben aufzubauen.
In seinen Aufzeichnungen erinnert sich Pfarrer Stiller an die ersten Tage in Neufahrn: „Die Straßen standen voll von Trecks, die auch aus Schlesien kamen. Ludwigsdorf, Oels, Konradswalden Kr. Brieg, Tillendorf Kr. Bunzlau, Pilgramshain Kr. Schweidnitz. Die ersten Beerdigungen waren Kinder, die den Transport nicht überstanden: am 14. und 19.3. Hans Joachim Quickert und Monika Kölla. Am 25.3. hielt ich den ersten Gottesdienst im Betsaal. Es zeigte sich, dass er viel zu klein war. Fast jedesmal wurde jemand ohnmächtig […] Am Gründonnerstag 29.3. musste ich die Frau des Lagerkommandanten der Muna in Oberleierndorf beerdigen, die aus meinem Heimatkreis Schweidnitz stammte und bei einem Fliegerangriff in Plattling zerrissen worden war. Die Abendmahlsfeiern zogen viele herbei. Am Karfreitag musste ich zum ersten Mal zwei Gottesdienste halten. […] Mit den Bombardierungen von Landshut und Regensburg setzte der elektrische Strom aus. Wir waren ohne Licht. Furchtbar waren die Nächte, in denen rings um uns die Brücken gesprengt wurden. […] Am Sonntag Kantate, 29.4. in den Vormittagsstunden zogen die ersten Panzer der Amerikaner ein.“
Die Menschen, die in Neufahrn eintrafen, hatten nicht viel mehr als ihr Leben gerettet. Es war ein schwieriges Ankommen in einer Gesellschaft, die sich nicht nur konfessionell oft elementar von der in der verloren gegangenen Heimat unterschied. Die Einheimischen mussten Wohnraum und Nahrung nun nicht nur mit den Ausgebombten, sondern auch mit den Flüchtlingen teilen. Neben Erfahrungen der Ausgrenzung, Demütigung und Diffamierung gibt es jedoch auch Geschichten unglaublicher Solidarität und Hilfe. Im Pfarrarchiv der Friedenskirche findet sich eine Reihe von erschütternden Fluchtberichten und lebensgeschichtlichen Erinnerungen, die in ihrem Charakter völlig unterschiedlich sind und hier nur in Schlaglichtern aufscheinen können: Ein „Trecktagebuch“ listet knapp und präzise die Stationen der Flucht aus dem schlesischen Schickwitz vom 20. Januar bis nach Mainburg, von wo sich am 15. März 1945 „in alle Himmelsrichtungen des Landkreises die Wagen in Bewegung setzen in unsere neue Heimat“. Klara Eckert notierte in ihr „Tagebuch der Flucht aus Schlesien“: „Am 20.1.1945 hieß es früh mit wenig Habseligkeiten die liebe Heimat verlassen. Sämtliches Vieh und alles, wie es stand, dem Feind überlassen. Es wurde uns auch nicht gesagt, in welch ernster Lage wir uns befanden.“
Ein immer wiederkehrendes Motiv in diesen Berichten ist die Hoffnung, dass die Flucht nur vorläufig sei, doch das Bild der Flüchtlingsströme aus östlicheren Gebieten des zusammenbrechenden Deutschen Reichs war ein Menetekel für das Schicksal, das bald auch sie ereilen sollte: „Das Notwendigste hatten wir schon Tage zuvor gepackt und auf Wagen verfrachtet. Tage und Nächte zuvor sind schon Trecks durch unseren Ort gezogen. Es waren die Dörfer rechts der Oder, denn die Oderbrücke sollte gesprengt werden.“
Oft dauerte die Flucht nicht Wochen, sondern Monate. Wer nicht in Trecks unterwegs war, versuchte zu Fuß, mit Lastwagen oder Zügen in den Westen zu kommen. Käthe Scholz erinnert sich: „Wir sind im Februar 1945 von Pillgramshain gestartet und kamen erst im September in Neufahrn an. 50 Pfund Gepäck durfte jeder mitnehmen, Mein Gott, was waren schon 50 Pfund! Heute frage ich mich schon, wie wir das alles geschafft haben, ohne ein einziges Mal krank zu werden. Man musste ja die Kleider am Leib trocknen lassen, konnte sich nicht waschen oder aufwärmen. Am Schluss waren wir alle verdreckt und verlaust. […] Die russischen Soldaten kannten kein Pardon. Immer wieder haben sie Mädchen und Frauen aus unserer Mitte mitgenommen. Wenn sie nachts Wodka tranken, war es am schlimmsten. […] Meine Mutter und ich machten uns immer hässlich, Wir banden uns Tücher um und machten uns schmutzig.“
Erst nach und nach war den Menschen bewusst geworden, dass es keine Wiederkehr in die alte Heimat geben würde: „Als wir dann alle wieder bei unseren Gespannen waren, wurde uns verkündet, dass wir hierbleiben und aufgeteilt werden. Das war für uns alle ein schwerer Schlag. Die ganze Zeit auf unserer Wanderschaft ist es uns gar nicht so zu Bewusstsein gekommen, was wir aufgegeben haben. Es war die ganze Zeit unser Bestreben, weiter zu kommen, dass die Pferde nicht krank werden und wir nicht vom Treck getrennt werden. Nun stand die Angst vor uns, wo werden wir hinkommen, wie soll es weitergehen. Die hiesigen Einwohner waren auch nicht erbaut, wenn sie eine Familie aufnehmen oder ein Zimmer abgeben sollten. Doch irgendwie ging es immer weiter, es war für uns alle nicht leicht. […] Die ersten Jahre arbeiteten wir mit den hiesigen Bauern auf dem Feld. Fabriken gab es außer der Dachziegelfabrik nicht. […] Das war für uns die schlimme Zeit, denn wir wollten ja wieder zu etwas kommen.“
Die Friedenskirche
Diese entwurzelten Menschen verlangten nach Gottesdiensten und geistlicher Gemeinschaft – was auch eine wichtige identitätsstiftende und -bewahrende Funktion hatte. Der Andrang im alten Betsaal des Schlosses Neufahrn war enorm, viele hundert Menschen standen im Hof, um zumindest in unmittelbarer Nähe Andacht zu halten. In den umliegenden Orten Ergoldsbach, Rottenburg, Mallersdorf und Oberellenbach wurden Gottesdienststationen eingerichtet. So kam Neufahrn bereits 1946 in der Bayerischen Evangelischen Landeskirche auf die Liste der Gemeinden, für die eine sogenannte Notkirche erbaut werden sollte. 1949 fiel endgültig die Entscheidung zum Bau eines Gemeindezentrums, das durch das evangelische Hilfswerk der amerikanischen Abteilung des Lutherischen Weltbundes finanziert wurde. Man entschied sich für den Typ D, von dem insgesamt 19 Gemeindezentren realisiert wurden.
Die Friedenskirche Neufahrn gehört zu den am besten erhaltenen Bartning-Kirchen dieses Typs. Sie ist geprägt von der vorgefertigten hölzernen Stützenkonstruktion und dem hohen Walmdach mit Kreuzbekrönung auf einem einfachen Glockenträger. Die Kirche war von Beginn an so konzipiert, dass sie als Sakralraum wie als Versammlungsort genutzt werden konnte. Die Altarnische ist daher verschließbar, Pult und Taufstein sind transportabel. Die bis heute erhaltenen Bänke waren ursprünglich um klappbare Tische ergänzt, die leider verloren sind. Die finanziellen Mittel für den Erwerb des Baugrunds für die Kirche musste die Flüchtlingsgemeinde allerdings selbst aufbringen, ebenso für das Material und die Herstellung des Fundaments.
Am Reformationstag, dem 31. Oktober 1949, versammelte sich die Gemeinde auf dem Bauplatz zum Gottesdienst. Die Predigt widmete sich dem ersten Brief des Apostels Petrus (2, 5): „Lasst auch ihr euch als lebendige Steine zu einem geistlichen Haus aufbauen“. Nach dem Lied „Ein feste Burg ist unser Gott“ wurde mit dem Bau der Fundamente begonnen. Die Menschen in der Gemeinde leisteten insgesamt 4035 freiwillige Arbeitsstunden, sodass es bereits 20 Tage später fertig war. Pfarrer Ernst Stiller schreibt in seinen Aufzeichnungen: „Am 20. November 1949 versammelte sich die Gemeinde auf dem Betonfundament der Kirche unter freiem Himmel. Die Bänke des Betsaals und ein Tisch als Altar standen auf dem Fundament. Rechts vom Altar, an der Stelle, an der das Predigtpult der Kirche stehen sollte, war die Vertiefung, in die die Urkunde eingemauert werden sollte. […] Der Apostel Paulus hat das Wort geschrieben, das für die Grundsteinlegung einer jeden christlichen Kirche gilt: ‚Einen anderen Grund kann niemand legen außer dem, der gelegt ist, welcher ist Christus‘.“
Ab diesem Tag konnte der hölzerne Skelettbau aufgerichtet werden. Im Januar 1950 wurden die Kirchenwände montiert und die Außenarbeiten fertiggestellt. Am 12. Februar war der Innenausbau abgeschlossen und das Gebäude wurde dem Kirchenvorstand übergeben. Am 28. Februar 1950 wurde die neue Kirche nach drei Monaten Bauzeit eingeweiht. An die tausend Menschen versammelten sich beim alten Betsaal im Neufahrner Schloss und zogen gemeinsam zur neuen Friedenskirche. Die Festreden fanden vor der Kirchentür statt und auch für den Gottesdienst konnte das Gebäude die vielen Menschen nicht aufnehmen.
Die Ehefrau des Pfarrers, die selbst mit ihrer Familie ohne jede Habe geflohen war, berichtet von Not und Erfindungsreichtum dieser Zeit am Beispiel der Paramente: „Mein Mann hat schon in Oberschlesien […] die Paramente selbst entworfen. […] Die Mütterkreise übernahmen, trotz schwieliger Hände, die Stickerei. Prof. Bartning freute sich anlässlich eines Besuchs über die Paramente in lila. Ein Morgenrock aus dem Hilfswerk ergab den Stoff. Dazu eine weiße Altardecke aus zwei Schweizer Hemden.“
Der Taufstein war im Gegensatz zu den anderen liturgischen Ausstattungsobjekten kein Bestandteil des Serienentwurfs von Otto Bartning und wurde daher in allen 19 Kirchen dieses Typs unterschiedlich gestaltet. Da es in und um Neufahrn große Tonvorkommen gibt, wandte sich Pfarrer Stiller an die Erlus Ziegelwerke, den einzigen Industriebetrieb des Ortes, in dem auch viele Flüchtlinge Arbeit gefunden hatten. Nachdem der Kirchenbau ohne Ziegel errichtet worden war und die Firma Erlus bereits vorher Hilfe angeboten hatte, stiftete sie den Taufstein, den sie aus derselben Erde herstellte, auf der auch die Kirche steht. Ein Architekt aus der Bauabteilung der Evangelischen Landeskirche fertigte den Entwurf, den der Landshuter Keramiker Georg Stadler ausführte. Er formte einen Tonzylinder, den er schichtweise aufbaute. Als Reminiszenz an das Erdreich ist die Oberfläche rau wie Ackerschollen. Vier vertikale gewellte Linien ziehen sich in Anlehnung an die vier Ströme des Paradieses über die Fläche.
Ton aus der neuen Heimat, Schlüssel aus der alten – dieses Symbol hatte Pfarrer Stiller im Sinn. Er bat die Gemeindeglieder daher um die Schlüssel von Haus und Hof in der verlorenen Heimat. Um den Taufstein herum wurde ein Eisenring gelegt, an dem über hundert Schlüssel befestigt wurden. So wurde der Taufstein zu einem bewegenden Zeichen für die Entstehung der evangelischen Gemeinde und einer neuen geistlichen und gesellschaftlichen Gemeinschaft, buchstäblich verwachsen und verbunden in der neuen Heimat.
Die Friedenskirche in Neufahrn ist eine der wenigen Notkirchen Bartnings, die ihren Charakter bis heute bewahren konnte. Die originalen Grundelemente wie der multifunktionale Gemeindesaal, die Seitenschiffe, die Sakristei, die Teeküche, die zwei Eingänge, das Sängerpodium und der Altar sind original erhalten. Lediglich die Sitzbänke und die Klappläden des Altars wurden ersetzt bzw. einmal aufbereitet.
Über Jahrzehnte hinweg war diese Kirche der Nukleus einer lebendigen, über lange Zeit wachsenden Kirchengemeinde. In den vergangenen 30 Jahren vollzog sich in Deutschland jedoch ein fundamentaler gesellschaftlicher Wandel. Die Volkskirchen verloren und verlieren kontinuierlich Mitglieder. 1990 gehörten noch 72 Prozent der Bevölkerung der katholischen oder evangelischen Kirche an, 2023 waren es nur mehr 46 Prozent. Dazu kam in Neufahrn die Notwendigkeit einer umfassenden Sanierung (2022-2024), die für die Kirchengemeinde finanziell nicht zu leisten war. So wurde unter der Federführung von Pfarrer Jörg Gemkow
gemeinsam mit der politischen Gemeinde Neufahrn ein wegweisendes Konzept entwickelt: Die Räume der Kirche dienen weiter als Sakralraum, werden nunmehr aber zusätzlich als kommunales Kulturzentrum genutzt, das auch einen neu gestalteten Bürgergarten auf dem Gelände umfasst.
75 Jahre nach der Weihe der Friedenskirche ist dieser architektonische und gesellschaftliche Transformationsprozess vollendet. Zu Beginn des Jahres 1945 waren die Menschen zusammen in Schlesien aufgebrochen, um die gefahrvolle Flucht in den Westen anzutreten. Sie hatten alles verloren und mussten gemeinsam ganz von Neuem anfangen. Der Geist dieses Zusammenhalts ist heute noch für jeden zu erspüren, der auf den Bänken der Friedenskirche Platz nimmt, denselben Bänken, auf denen schon die Teilnehmenden des ersten Gottesdienstes 1950 saßen. An diesen Zusammenhalt gilt es sich stets zu erinnern.
Heute treffen sich in der Friedenskirche die Menschen der Region, unabhängig von Religion und Konfession. Zu Gottesdienst und Andacht. Zu Blasmusiktreffen und Ausstellungseröffnung. Zu Gespensterübernachtung und Konzert. Vor allem aber: Um einander zu begegnen.
Dieser Beitrag von Dr. Stefanje Weinmayr erschien in Heft 1 der Schöneren Heimat 2025. Sie finden dort die Original-Version des Textes mit Fußnoten.