Wenn heutzutage von Weihnachten die Rede ist, denken die meisten von uns an die Geschenke an Heiligabend. Bereits die nachfolgenden zwei Feiertage werden von vielen Menschen nicht mehr wegen ihrer religiösen Bedeutung, sondern als arbeitsfreie Tage geschätzt. Und spätestens ab dem 27. Dezember gelten die Gedanken der kulinarischen, dekorativen und pyrotechnischen Ausgestaltung der Silvesterparty. Völlig in Vergessenheit geraten ist dagegen, dass Weihnachten weitaus mehr ist als Christbaum und Bescherung. Gerade im katholisch geprägten Bayern ist der Termin vielmehr eingebunden in den sogenannten Weihnachtsfestkreis, der vom ersten Sonntag im Advent bis zum Sonntag nach dem Dreikönig dauert und mit zahlreichen Bräuchen verbunden ist.
Da im Neuen Testament und in sonstigen zeitgenössischen Quellen nicht überliefert ist, wann Jesus Christus geboren wurde, dauerte es mehrere Jahrhunderte, bis der 25. Dezember als Geburtsdatum einheitliche Anerkennung in der römischen Staatskirche fand In Analogie zum Osterfestkreis entwickelte sich im mittelalterlichen Gallien sowie in der Ostkirche etablierte sich sogar eine vierzigtägige vorweihnachtliche Fastenzeit, die am 12. November, also am Tag nach Sankt Martin, begann. Die Legende von den Martinsgänsen, die erst lange Zeit nach dem Tod des Heiligen entstand, könnte also darauf beruhen, dass man sich mit einem Gänsebraten einen letzten Genuss vor Beginn des Verzichts auf fleischliche Nahrung gönnte. In der katholischen Kirche ist etablierte sich aber schließlich die vierwöchige Adventszeit, die allerdings schon seit 1917 keine offizielle Fastenzeit mehr ist. Sie soll vielmehr der Vorbereitung und Vorfreude auf Weihnachten dienen. Der Adventskranz sowie der Adventskalender, deren Entstehung in die erste Hälfte des 19. Jahrhundert zurückreicht, fand in weiten Teilen Bayerns jedoch erst rund 100 Jahre später allgemeine Verbreitung.
in die erste Dezemberhälfte fallen Heischebräuche, bei denen Kinder und Bedürftige von Haus zu Haus ziehen und mit einem Spruch oder einem Lied um kleine Gaben bitten. Sie werden beispielsweise als Klopfertag, (von Anklopfen), Klöpfelsingen, Anklöckeln oder Gletzei gehen (Kletzen ist der bairische Begriff für Früchtebrot) bezeichnet. Eine Sonderform der Umzüge sind das Klausentreiben im Allgäu und das Krampuslaufen in Oberbayern und in der Oberpfalz an den Tagen um den 6. Dezember. Schon am Namen ist der enge Bezug dieser Bräuche zum Heiligen Nikolaus zu erkennen. Auch er ist eine Brauchfigur, deren weihnachtlicher Kontext sich daran deutlich ablesen lässt, dass er sich zunächst in den evangelischen Regionen Deutschland und später auf der ganzen Welt in die säkulare Figur des Weihnachtsmannes verwandelte.
In der Adventszeit wurden früher sogenannte Gebildbrote gebacken, zuckrige Backwaren in Gestalt von menschlichen Figuren, Tieren, Blumen oder sonstigen Motiven, die oftmals an den Christbaum gehängt wurden, bevor sie die Kinder verzehren durften. Heute wird dagegen das gemeinsame Backen von Weihnachtsplätzchen noch in vielen Familien als Einstimmung auf das Weihnachtsfest gepflegt. Ein weiterer Adventsbrauch, der früher stark verbreitet war, dann weitgehend in Vergessenheit geriet und in jüngster Zeit mancherorts wieder eine erstaunliche Renaissance erlebt, ist das Frauentragen. Dabei wird üblicherweise eine Statuette der Gottesmutter zu allen Leuten getragen, die sich vorab zur Mitwirkung angemeldet haben. Als Versinnbildlichung der Herbergssuche von Maria und Josef soll dieser Brauch dazu anregen, sich durch Gebet und Verehrung innerlich auf die Geburt des Erlösers vorzubereiten. Ebenfalls der Veranschaulichung der Geburt Christ dienen die Weihnachtskrippen, die in Kirchen und Wohnhäusern aufgestellt werden. Eine regionale Form der Ankündigung des weihnachtlichen Heilsgeschehens ist das Christkindlschießen im Berchtesgadener Land in der Woche vor Heiligabend.
Das erste kirchliche Hochfest nach den Weihnachtstagen ist Heiligdreikönig am 6. Januar. In Erinnerung an die Gaben, die die drei Weisen aus dem Morgenland nach biblischer Überlieferung dem Jesusknaben darbrachten, findet noch heute in manchen katholisch geprägten Ländern (z.B. in Spanien) die weihnachtliche Bescherung an diesem Tag statt. In Bayern ist das Fest vor allem mit den Sternsingern verbunden, einem Heischebrauch, bei dem das gesammelte Geld seit 1959 vornehmlich dem Kindermissionswerk zugutekommt.
Nach der Grundordnung des Kirchenjahrs, wie sie seit der Reform 1969 in der römisch-katholischen Kirche gilt, endet der Weihnachtsfestkreis.am Sonntag nach Dreikönig. Zuvor dauerte er sogar bis zum Fest der Darstellung des Herrn – im Volksmund Mariä Lichtmess genannt – am 2. Februar. Bis heute ist es daher in manchen Familien üblich, erst an diesem Tag den Christbaum und die Krippe abzubauen.
Bräuche im Weihnachtsfestkreis, wie sie hier nur kursorisch angedeutet werden konnten, veranschaulichen die tiefe religiöse Verwurzelung der Menschen. Auch wenn in unserer zunehmend säkularen Gesellschaft dieser Kontext immer stärker in den Hintergrund tritt, bleibt doch die gemeinschaftsstiftende Bedeutung dieser Bräuche bestehen. Überzeugen Sie sich selbst davon: Reichen Sie nach der Christmette an Heiligabend den Leuten um Sie herum die Hand und wünschen Sie Ihnen „Frohe Weihnacht“. Sie werden sehen, dass es kaum ein stärkeres Gefühl der individuellen Einbindung in das soziale Miteinander Ihrer Heimat geben kann.
Dieser Text erschien in der 55. Ausgabe der Zeitschrift MUH.