Wie Schüler ihren Dialekt retten – Interview mit Dr. Lisa Soder, Linguistin und Referendarin am Gymnasium Berchtesgaden

Die ehemalige Klasse 8a des Gymnasiums Berchtesgaden hat die sprachliche Vielfalt im Berchtesgadener Land erforscht – vom lokalen Dialekt bis zur Mehrsprachigkeit der eigenen Schulgemeinschaft. Zur Seite standen der Klasse dabei erfahrene Expertinnen und Experten, die sich mit Mundarten auskennen. Für das Citizen-Science-Projekt „Wie spricht Berchtesgaden?“  hat die Klasse einen Anerkennungspreis des Landesvereins von „Jugend macht Heimat!“ erhalten. Im Interview erzählt die verantwortliche Lehrerin, wie die Schülerinnen und Schüler die Erkenntnisse gesammelt haben und welche überraschenden Einblicke sich dabei ergaben.

 

Frau Soder, Sie selbst sprechen keinen Dialekt. Wie kamen Sie zu diesem Thema?

Ich selbst bin tatsächlich ohne Dialekt aufgewachsen. Meine Eltern haben großen Wert darauf gelegt, mit uns Hochdeutsch zu sprechen. Umso spannender war es für mich, nach Berchtesgaden zu kommen: Hier wird Dialekt ganz selbstverständlich gelebt, von Jung und Alt. Im Zuge meines Lehramtsreferendariats bin ich aus Unterfranken (Würzburg) an diesen in vielerlei Hinsicht einzigartigen Ort gekommen. Diese gelebte Dialekttradition zu erleben, war für mich etwas ganz Besonderes – und wohl auch das Sprungbrett für die Projektidee.

Wie haben Sie Berchtesgaden sprachlich wahrgenommen, als Sie neu hier waren?
Als Neuankömmling geht man mit ganz anderen Ohren und Augen durch einen Ort. Mir ist sofort aufgefallen, dass Berchtesgaden nicht nur landschaftlich, sondern auch sprachlich einzigartig ist. Auf der einen Seite gibt es diese sehr starke Dialekttradition, auf der anderen Seite eine große internationale Offenheit durch den Tourismus. Man hört unglaublich viele Sprachen und gleichzeitig einen sehr identitätsstiftenden Ortsdialekt. Diese Kombination ist spannend. In den verschiedenen Talkesseln gibt es sogar unterschiedliche Dialektfärbungen. An kleinen sprachlichen Variationen kann man oft schon erahnen, wo jemand herkommt.

Gab es zu Beginn Verständigungsschwierigkeiten?
(lacht) Absolut. Anfangs hatte ich den Eindruck, den Dialekt schon recht gut zu verstehen – bis mir schnell klar wurde, dass viele Einheimische mit mir ins Standarddeutsche wechseln, also Code-Switching betreiben, und dabei nur eine regionale Färbung beibehalten. Wenn Berchtesgadener unter sich interagieren und wirklich „tiefen“ Dialekt sprechen, wird es für mich teilweise noch anspruchsvoll – aber ich lerne fleißig dazu.

Haben Sie selbst auch ein Lieblingsdialektwort gefunden?
Ja, da bin ich ganz bei der Schulgemeinschaft. Im Zuge des Forschungsprojekts haben die Schüler eine digitale Umfrage organisiert und ein klares Lieblingswort gekürt: „Oida“. Das ist einfach fantastisch. Es ist unglaublich multifunktional: Es kann Überraschung, Ärger, Begeisterung und vieles mehr ausdrücken, ist Diskursmarker, Interjektion und Vokativ zugleich. Linguistisch betrachtet ist es ein kleines Wunder – und deshalb mittlerweile auch eines meiner Lieblingswörter.

Wie ist das Projekt „Wie spricht Berchtesgaden“ entstanden?
Ausgangspunkt war die besondere Sprachlandschaft vor Ort: Dialekt, Standarddeutsch und Sprachen aus aller Welt begegnen sich hier im Alltag – nicht zuletzt durch den Tourismus. Auch in der Klasse wurde das spürbar: Dialektsprecher, Hochdeutschsprecher und Schüler, die Deutsch nicht als Muttersprache haben, bringen unterschiedliche sprachliche Erfahrungen mit. Daraus entstand die Idee, dieses Spannungsfeld gemeinsam genauer in den Blick zu nehmen: Welche Sprachen werden wann gesprochen? Wie wird Dialekt erlebt? Und welche Rolle spielt Sprache für Zugehörigkeit und Identität? Aus diesen Fragen heraus entwickelte sich das Projekt „Wie spricht Berchtesgaden“.

Wie haben Sie das Projekt umgesetzt?
Das ging vor allem durch viel Mithilfe aus der Gemeinschaft. Die Schüler haben Interviews mit einheimischen Dialektsprechern geführt, digitale Umfragen umgesetzt, Daten ausgewertet und Mehrsprachigkeit im Ortsbild untersucht. Allein am Gymnasium Berchtesgaden mit knapp 500 Schülern begegnet man im Alltag vielen Sprachen – nicht zuletzt durch Zugezogene und Jugendliche mit internationalem Hintergrund. Die schulweite digitale Umfrage der Klasse hat diese Vielfalt erstmals sichtbar gemacht und bildete den Ausgangspunkt. In Kleingruppen wurden Befragungen durchgeführt und Sprachbiografien gesammelt. Als schöner Nebeneffekt haben viele entdeckt, dass sie Sprachen teilen („Ach, du sprichst auch Russisch?“) – und es entstanden neue Kontakte. Gleichzeitig war es eine große Gaudi, das Klassenzimmer zu „öffnen“ und Sprache im Schulhaus und im Ort aktiv zu erforschen.

Sie haben auch mit dem Verein „Generationen füreinander“ zusammengearbeitet. Wie kam es dazu?
Der Verein „Generationen füreinander“ ist in Berchtesgaden eine wirklich tolle Anlaufstelle: Viele engagierte Mitglieder unterstützen sich dort ehrenamtlich und generationenübergreifend. Und genau dort fanden sich auch Menschen, die besonders viel orts- und kulturgebundenes Sprachwissen mitbringen – ein Wissen, das über Jahre gewachsen ist und sich nicht einfach aus Büchern lernen lässt. Eine passende Auswahl dieser Vereinsmitglieder kam dann in die Schule und ließ sich von der damaligen Klasse interviewen.

Was wurde bei diesen Begegnungen thematisiert?
Es ging um persönliche Sprachbiografien, Einstellungen zu Sprache und Dialekt und um Beobachtungen, wie sich Sprache im Laufe der Zeit verändert hat – und ganz konkret um Besonderheiten des Berchtesgadener Dialekts, also typische Wörter, Formen und Eigenheiten. Dabei kamen auch (fast) vergessene Wörter zur Sprache, feine regionale Unterschiede zwischen den Talkesseln, aber ebenso persönliche Erfahrungen. Auffällig war: Alle wünschten sich, dass der Dialekt erhalten bleibt. Gleichzeitig betonten sie Offenheit und Anpassungsfähigkeit – Wertschätzung von Mehrsprachigkeit und ein respektvolles Miteinander standen klar im Vordergrund.

Gab es Beispiele für alte oder fast verschwundene Begriffe?
Ja, zum Beispiel das „Rachguggerl“. Das ist ein kleines Fenster zur Belüftung von Räumen aus einer Zeit, als noch ausschließlich mit Feuer geheizt wurde. Solche Fenster gibt es heute kaum noch – aber allein das Wort erzählt viel über frühere Lebenswelten. Und auch bei den Verwandtschaftsbezeichnungen sieht man den Wandel: Für Oma und Opa etwa „Arei“ und „Erei“ – Begriffe, die man inzwischen nur noch selten hört. Interessant ist dabei: Gerade das „-ei“ am Ende lebt aber weiter. Als Diminutiv-Suffix wird es hier oft verniedlichend gebraucht – etwa in „a bissei“ für „ein bisschen“ oder in Spitznamen wie „Kathei“. Und es taucht sogar in neuen, hybriden Wortbildungen der Jugendsprache auf: Einige Schüler nennen bspw. ChatGPT ‚liebevoll‘ „Chatai“. Solche Beispiele zeigen, wie Dialekt nicht verschwindet, sondern sich weiterentwickelt.

Wie haben die Schülerinnen und Schüler auf diese Arbeitsweise reagiert?
Mit großer Begeisterung – auch, weil sich dabei buchstäblich die Türen des Klassenzimmers geöffnet haben. Statt sich nur im Unterricht mit Sprache auseinanderzusetzen, konnten sie Sprache im Schulhaus und im gesamten Ort entdeckend und forschend erkunden – eine willkommene Abwechslung zum klassischen Unterricht. Besonders schön war, dass jede Stärke eingebracht werden konnte: Dialektsprecher, Mehrsprachige und auch Schüler, die Deutsch nicht als Muttersprache haben.

Könnte Ihr Projekt ein Modell sein für andere Schulen in Bayern?

Ja, unbedingt. Bayern ist voll von regionalen Dialekten und gelebter Tradition – es gibt also überall etwas zu entdecken. Und das Grundprinzip lässt sich gut übertragen: Schüler setzen sich forschend mit einem Lerngegenstand auseinander und öffnen das Klassenzimmer nach außen. Man braucht dafür allerdings zwei Dinge: einen klaren Rahmen und vor allem Zeit. Bei uns war das am Schuljahresende besonders gut möglich, wenn die letzten Prüfungen vorbei sind und der große Druck raus ist – dann ist Raum für einen „anderen“ Deutschunterricht, der freier ist und Teamarbeit sowie selbstbestimmtes, eigenverantwortliches Lernen fördert.

Dazu kommt der kollaborative und generationenübergreifende Aspekt: Wenn Jugendliche mit Zeitzeugen oder anderen lokalen Experten ins Gespräch kommen, entsteht ein Austausch, der fachlich wie menschlich enorm bereichert – und der Sprache als lebendiges Kulturgut erfahrbar macht.

Wenn diese Voraussetzungen stimmen, entsteht oft genau das, was wir erlebt haben: Die Jugendlichen entwickeln einen regelrechten Professionalisierungsdrang, organisieren etwa eine Dialekt-Tagung, führen Interviews, werten Daten statistisch aus und präsentieren Ergebnisse – zum Beispiel wie in unserem Projekt auf ihrer eigenen Webseite (https://www.gymbgd.de/schulprofil/projekte/ ). In diesem Sinne kann das Projekt gut als Modell dienen: eine Schule, die nicht belehrt, sondern begeistert, und die zeigt, dass Lernen besonders nachhaltig wirkt, wenn es Bedeutung gewinnt und echte Teilhabe ermöglicht.

Was nehmen Ihre Schülerinnen und Schüler aus dem Projekt mit – und wie geht es weiter?
Es gibt viele Ideen, wie das Projekt weiterleben kann: eine Dialekt-AG, weitere Wort-Sammlungen oder Sprach-Tandems, in denen man sich gegenseitig beim Lernen unterstützt. Eine wichtige Erkenntnis war auch, dass Dialektsprechen heute wieder ein Statement ist. Viele Jugendliche empfinden es nicht mehr als Makel, sondern als Ausdruck von Identität. Dialekt zu sprechen, ist einfach wieder richtig im Trend.

Das Interview führte Daniela Sandner.

 

THEMENBEREICHE
AKTUELLES

Das könnte Sie auch interessieren:

Dieter Klein sitzt an einem Tisch mit ausgelegten Gebäude-"Abriss"-Kalendern.

„Es ist ziemlich leicht, etwas zu verschlimmbessern“ – Gespräch mit Dr. Dieter Klein

Der Kunsthistoriker Dr. Dieter Klein dokumentiert mit seinen „Abreißkalendern“ für Wien und München seit über 40 Jahren massive Eingriffe ins Stadtbild. Auch mit Führungen und Vorträgen sensibilisiert der Jugendstil-Experte  für den Denkmalschutz. Im Januar prämiert der Bayerische Landesverein für Heimatpflege wieder den „Abriss des Jahres“ – eine Aktion, die Dieter Klein überaus wichtig findet, wie er im Gespräch mit dem Landesverein betont.

weiterlesen »

Wie Schüler ihren Dialekt retten – Interview mit Dr. Lisa Soder, Linguistin und Referendarin am Gymnasium Berchtesgaden

Die ehemalige Klasse 8a des Gymnasiums Berchtesgaden hat die sprachliche Vielfalt im Berchtesgadener Land erforscht – vom lokalen Dialekt bis zur Mehrsprachigkeit der eigenen Schulgemeinschaft. Zur Seite standen der Klasse dabei erfahrene Expertinnen und Experten, die sich mit Mundarten auskennen. Für das Citizen-Science-Projekt „Wie spricht Berchtesgaden?“  hat die Klasse einen Anerkennungspreis des Landesvereins von „Jugend macht Heimat!“ erhalten. Im Interview erzählt die verantwortliche Lehrerin, wie die Schülerinnen und Schüler die Erkenntnisse gesammelt haben und welche überraschenden Einblicke sich dabei ergaben.

weiterlesen »
WordPress Cookie Plugin von Real Cookie Banner